Wenn Gelassenheit nicht ausreicht.

In einem renommierten Blatt hat dieser Tage ein Schriftsteller die Ideen der antiken Stoiker als Mittel empfohlen, um gut durch die stürmischen Coronazeiten zu kommen. Ein wohlwollender Rückgriff auf die Lebenshaltung von Seneca und Co., um mit ruhender Seele all das zu überstehen, was uns täglich an Zahlenspielen, Einschränkungen und Mahnungen dargeboten wird.
Auf den ersten Blick würde man der Idee als Philosoph durchaus zustimmen, zumal der vernünftige Blick von Oben und die Selbstsorge in bewegten Zeiten sicher ein probates Mittel zu sein scheint, diese wellenhaften Phänomene gut zu durchschiffen.

Das Erreichen der Ataraxie, der stoischen Seelenruhe, diente damals aber ausschließlich der persönlichen Idee des guten Lebens. Sie war zu keiner Zeit als Mittel gedacht, sich den politischen und gesellschaftlichen Vorgaben kritiklos unterzuordnen. Gerade die Philosophen fielen immer wieder in Ungnade, wurden verbannt oder zum Tode verurteilt, gerade weil sie sich mit den Großen und Mächtigen anlegten und sie kritisch hinterfragten.

Wenn es nicht gerade einer der bekanntesten Vertreter der Stoa gewesen wäre, der uns gerade für solche Zeitabschnitte, noch etwas ganz anderes empfohlen hätte. Es war genau dieser, in dem Artikel zitierte Lucius Annaeus Seneca, von dem wir auch Folgendes lesen dürfen:

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„Wenn ein Seemann nicht weiß, welches Ufer er ansteuern muss, dann ist kein Wind der richtige.“
Hier taucht noch ein ganz wichtiger Aspekt auf, der dieser Tage womöglich noch viel mehr zum Tragen kommen wird als wohlgemeinte Krisendurchhaltemodelle. Es braucht einen erfahrenen Seemann, einen exzellenten Navigator der die Zeichen am Himmel in der Weise zu deuten weiß, dass er eine für alle Passagiere und Matrosen günstige Wahl des Hafens treffen kann. Was hilft eine seelenruhige Lebenshaltung, wenn man am offenen Meer dahintreibt und der sichere Hafen nicht erreichbar scheint?

Passagiere, die sich nicht vertrauensvoll in die Obhut ihres Kapitäns begeben können, könnten dazu neigen, Sachverhalte kritisch zu hinterfragen, selbstständige Denkansätze zu entwickeln und in erster Linie irgendwann ihrem Unverständnis und ihrer Unsicherheit Ausdruck zu verleihen suchen.
Im Wissen dessen, versucht die Politik eine schmerzbefreite Rhetorik zu bedienen, gibt sich staatsmännisch betroffen und ernst. Unterstützt werden solche oberflächlichen Vorgangsweisen durch scheinemphatische Ideologen, die den Menschen zu vermitteln versuchen, dass Zustände und Versäumnisse seitens der politisch lenkenden Kräfte, doch als Chance zu sehen sind und die wahre Lebenskunst nicht daraus besteht Widerstand zu leisten, selbst zu denken und Kritik zu üben, sondern sich im Selbstdisziplinieren, Einschränken und innerer Gelassenheit zu trainieren.

Begriffe wie Selbstverantwortung und Solidarität dienen dazu, mangelnde Weitsicht und fehlende Bildung der politischen Kräfte zu privatisieren.
Typisch für unsere Disziplinargesellschaft, die dadurch wieder eine neue Möglichkeit geschaffen hat abgehängt zu werden, nicht zu entsprechen oder heraus zu fallen aus dem Kreis der Begünstigten. An der Selbstwerdung scheitern wird in den Katalog der Fehler und Verstöße mit aufgenommen.

Der Hafen aber gibt die Richtung vor, liefert die Basis für einen neuen Ausgangspunkt und die Chance sich für die nächste Reise wieder gut zu rüsten.
Wohin aber geht sie eigentlich unsere Fahrt durch Lockdowns, Fallzahlen und Homeschooling? Was erwartet uns am Ende dieser Reise? Welche Ausgangslage werden wir am Ende als Bürgerinnen und Bürger vorfinden?
Der sichere Hafen scheint weit und die Idee der Rückkehr zum Ausgangspunkt scheint bei den Begleiterscheinungen der angeordneten Massnahmen ein durchaus riskantes bis unmögliches Unterfangen. Häfen sind immer auch geschichtliche Orte, lebendig erfüllt von Erfahrungen und Erzählbarem. Die Narrative, auf die man dort trifft, bieten eine sichere Basis, auf die man zurückgreifen kann, von denen ausgehend der Mensch seine eigenen Spuren ins Leben ziehen kann.

So unberechenbar wie die Ozeane, auf denen sich die Schiffe ihren Weg zum sicheren Ankerplatz gesucht haben, so unberechenbar scheinen auch manche Phänomene unserer Tage zu sein.
Die dringend notwendigen Narrative haben sich verflüchtigt, die Diskurse bleiben dadurch an der Oberfläche und so wird über Schulschließungen und Homeschooling debattiert, anstatt wirkliche Gedanken zur Bildung anzustellen. Wie wir schon seit Aristoteles wissen, das wichtigste System, wenn es um eine funktionierende Gesellschaft geht. Warum nicht wie andere Länder in Bildung investieren?  Warum nicht Schulen vergrößern, Klassenzahlen senken, Personal grundlegend besser ausbilden, jedem Kind ein digitales Schulgerät zur Verfügung stellen?
Warum nicht dem aristotelischen Fähigkeitenansatz folgen und für viel mehr Chancengleichheit und wirkliche Gleichstellung sorgen, Armut von Grund auf bekämpfen und über ein Grundeinkommen den Begriff der Arbeit neu definieren?

Die Idee, möglichst alle Institutionen, das Bildungssystem, das Gesundheitswesen und vieles mehr der neoliberalen Marktlogik zu unterwerfen hat uns in eine unglaubliche Situation gebracht. Die Pandemie ist für die aktuelle Situation nicht verantwortlich, sie zeigt nur klar die Versäumnisse und Irrwege der letzten Jahrzehnte auf.

Anstatt schließlich gelassen aus - und durch zu halten, sollten wir mutig und groß eine neue Idee von Gesellschaft denken, ein den neuen Umständen gefordertes Narrativ auf den Weg bringen.
Von den Stoikern können wir trotzdem lernen indem wir die Dinge, deren Änderung nicht in unserer Macht steht, keine große Aufmerksamkeit schenken und dafür unsere Ideenkraft dort einsetzen, wo wir wirksam werden können. 

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