Corona und Homeoffice II
Möglicherweise ein Irrtum
Knapp 10 Minuten Gehzeit trennt meine Praxis von der tschechischen Grenze. In meiner Jugendzeit war dieses Stacheldrahtband von Wachtürmen beobachtet, die erste Begegnung mit dem Fremden. Das Ende einer Welt und zugleich anziehend und irritierend. Jetzt ist es an der Grenze wieder ruhig geworden. Der zarte europäische Gedanke verschwunden, abgelöst vom geschichtlich erprobten Rückzug in die kleinliche Sicherheit.
Die Welt im Panikmodus?
Möglicherweise ein Irrtum, möglicherweise eine strategische Wunschvorstellung, möglicherweise noch ausstehend, aber es ist keine Panik bemerkbar. Ganz im Gegenteil, es herrscht abgesehen von kurzfristigen, leicht übertriebenen Hygienepapier - Käufen Ruhe und Gelassenheit. Man könnte fast meinen, viele Menschen ringen mit dieser Situation, um darin Halt und Stabilität bei sich selbst zu finden. Eltern müssen sich wieder fähig machen, ihre Kinder rund um die Uhr zu begleiten, sie pädagogisch zu betreuen, erwachsene Kinder müssen einen verantwortungsvollen Kontakt zu ihren alten Eltern aufrechterhalten um sie zu schützen, Freundschaften erweisen sich gerade jetzt als echt oder konstruiert, Fernbeziehungen erscheinen ob der Grenzschließungen unüberwindbar. Das was sich zeigt, ist keine Panik, sondern vielerorts ein mutiges Hineinwagen ins Menschsein, in neue Verantwortungen und in tiefe Selbstreflexion. Erfüllte Unabhängigkeit nennt das Karl Jaspers, wenn wir leiden, ohne zu jammern, verzweifeln, ohne zu versinken, geschüttelt werden, ohne ganz umgeworfen zu werden. Wir sind durch unsere innere Unabhängigkeit aufgefangen.
Es finden keine Panikgespräche statt, sondern vielerorts vernünftige Kommunikation und Austausch. Die einzigen, die anschaulich aus den Rollen fallen, sind im Moment nicht die panischen Durchschnittsbürger, sondern die vom neoliberalen System menschlich anscheinend schwer gezeichneten Börsenvorstände und Großbanker, Großindustrielle oder Möchtegernökonomen. Die dann frivol in Zeiten bedrohlicher Zustände noch ihre Bonuszahlungen und Dividendenausschüttungen öffentlich zu rechtfertigen suchen. Genau dort hat unser Bildungssystem kläglich versagt, genau dort zeigt sich ein bedenkenswertes Demokratieverständnis. Es sind genau diese unverbundenen, der Wirklichkeit enthobenen, auf sich bezogenen Menschen, die auch unsere Spitäler kaputt gespart haben, die unsere Schulen und das Personal auf reine wirtschaftliche Brauchbarkeit fokussiert und in keiner Weise auf die Digitalisierung vorbereitet haben, die dem Wesentlichen und Sinnhaften abgeschworen haben und ausschließlich auf finanziellen Ertrag hin agieren. Die Krankenhäuser werden die Pandemie nicht deshalb überstehen, weil die Politik sich so dafür eingesetzt hat, sondern sie scheitern beinahe daran oder wie in Italien auch wirklich, weil sie vorab von neoliberalen Kleingeldzählern „gesund“ organisiert wurden, das Gleiche ist im Bildungssystem geschehen.
Wenn es neuerdings Gratiscomputer für sozial Benachteiligte gibt, sollte schon die Frage erlaubt sein, mit welchen Geräten diese Schülerinnen und Schüler in der Zeit vor Corona gearbeitet haben? Die prekären Wohnverhältnisse hat es wohl auch vorher gegeben, die Unerreichbarkeit durch kulturelle und sprachliche Hindernisse sind ebenfalls keine spontanen Phänomene. Die Digitalisierung ist bei einem Teil der Jugendlichen gar nicht angekommen. Arbeiten scheitert an der ruhigen Lernumgebung, ausreichend Guthaben, Internetzugang…usw. Vor allem aber an der fehlenden Kompetenz des Selbsterarbeitens. Wer nie die Chance bekommen hat, sich Inhalte selbst zu erarbeiten, kann sich Welt nicht selbstständig erschließen. Diese Nachteile und Verwerfungen zeigen sich doch nicht erst in solchen Krisenmomenten, sondern liegen schon immer am Tisch. Sie wurden nur durch den permanenten Performationszwang, dem sich die politisch Tätigen unterworfen haben, stetig unterdrückt. Die Pandemiezeit zeigt also nicht die Stärken auf, sondern macht die Lückenhaftigkeit der Systeme allerorts transparent.
Keiner soll vergessen werden.
Keiner wird zurückgelassen, ist eine wunderschöne Idee, die aber leider in der Realität nicht ankommen wird. Bestenfalls wird ein zaghafter utilitaristischer Ansatz sichtbar werden und man wird versuchen so vielen wie möglich oder denen, die am lautesten lärmen, zu helfen. Die in kleinen Dosen verabreichten Einschränkungen sind gepaart mit menschlich wirkenden Versprechungen, die die Polis in einen Traum von Solidarität und Gleichheit eintauchen lässt. Die gekonnte Inszenierung führt wieder Regie und so werden wir bald die Parolen von den Helden der Pandemie vernehmen, die nicht nur Menschenströme stilllegen können, sondern auch den Kampf gegen einen Virus erfolgreich zu führen wissen. „alle“ wird wohl bei solchen Formulierungen als Gegensatz zu „keiner“ gedacht werden. Man hätte auch sagen können, allen wird geholfen, aber dann wäre die Unmöglichkeit, die in solchen Aussagen steckt, womöglich viel früher transparent geworden. Die Dimension des Anderen ist aus unseren Lebenswelten schon lange verschwunden. Eingehüllt in unsere Blasen driften wir unterschiedsfrei und vom Gleichsein besessen, am Anderen vorbei. Und auf einmal taucht er auf, der Andere, als Systemerhalter, als unabdingbare Randerscheinung, die ganz plötzlich ins Rampenlicht kommt. Der spontane liebende und wohlwollende Blick bringt eine kurzzeitige heilende Romantik, die aber allzu bald wieder erlischt. Einmal kurz euphorisch Beifall bekunden, eine kleine monetäre Aufmerksamkeit und für einen kurzen Moment ändert sich der Blickwinkel auf die Welt, die uns umgibt.
Die Sehnsucht nach dem Herkömmlichen setzt sich aber schnell in altbewährter Weise wieder durch und es alles wird wieder darangesetzt werden, „koste es ,was es wolle“, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Innerhalb weniger Wochen verklärt sich der entfremdete Alltag, der konsumgesteuerte Leistungswahnsinn, der berührungslose Lebensstil und wird zum ersehnten Zielpunkt der Zukunft. Das Herkömmliche bietet den Luxus des kleineren Übels und vor allem die Sicherheit des Gewohnten. Die Welt neu zu gestalten würde das Risiko des Scheiterns mit sich bringen, müsste möglicherweise als Versuch begonnen werden, könnte aber auch das Herkömmliche erhöhen, womöglich auf eine weit menschlichere Ebene als bisher, aber natürlich womöglich auch nicht.
Kai Kranner